Schicksalsfahrt – Selbstmord
Es gibt Momente im Leben, die einem erst viel später bewusst werden, dass sie passiert sind. Momente, in denen man mittendrin steckt und doch nur als Passant von weitem zuschaut. So einen Moment erlebte ich Anfang Oktober 2011.
Ich war mit meinen drei Kindern auf dem Weg zu meiner Mutter in Braunschweig. Wir wollten sie mit dem Zug besuchen und alle freuten sich darauf. Bereits auf dem kleinen Bahnsteig in Salzgitter überfiel mich ein komisches Gefühl, ich konnte es nicht beschreiben. Eigentlich spürte ich es bereits am Tag zuvor. Irgendwas sagte mir, ich soll nicht in diesen Zug um 11.21 Uhr steigen, meiner Mutter lieber absagen. Aber ich entschied mich dagegen. So standen wir auf dem Bahnsteig und warteten auf den Regionalzug. Mit der Zeit füllte sich der anfangs leere Bahnhof mit immer mehr Passagieren, meist junge Leute, die von der Berufsschule kamen. Der Zug traf ein, wir stiegen hinten ein und gingen aber Richtung Schaffner. Im Nachhinein war auch dies wieder eine Entscheidung aus dem Bauch heraus, wie sich später herausstellen sollte.
Die ersten Minuten der Zugfahrt verlief alles friedlich. Meine Kinder schauten aufgeregt aus dem Fenster und freuten sich über die Landschaft. Vier kleine Bahnhöfe hatten wir bereits hinter uns gelassen, der fünfte größere wurde angesagt und der Zug verlor an Geschwindigkeit. Plötzlich ein lauter Aufprall, ein Krachen hinterher und dann wurde etwas durch die Luft geschleudert. Schwarze, kleine Steine oder ähnliches, ich konnte es nicht genau erkennen.
Es folgte ein Rumpeln, der Zug fuhr über einen größeren Gegenstand oder ähnliches. Dann wackelte der Zug gefährlich zu beiden Seiten, kurzseitig dachte ich, wir würden entgleisen und schickte ein Stoßgebet gen Himmel. Nach ein paar weiteren hundert Metern kam der Zug zum Stehen. Stille.
Keine Durchsage, auch die Jugendlichen und anderen Mitreisenden hielten für ein paar Minuten die Luft an. Die Zeit stand still für einen kurzen Moment, jemand hat die Zeiger angehalten. Allmählich begann das Stimmengewirr und die Fragen. Was war das? Was war geschehen? Wieso stehen wir auf freier Strecke? Ist ein Tier vor den Zug gelaufen? Hat jemand die Schienen sabotiert?
Es folgte ein Durchsage des Schaffners, er entschuldigte den unplanmäßigen Halt und teilte uns mit, dass wir einen Unfall mit einer menschlichen Person hatten. Die neugierigen unter den Jugendlichen sind nach hinten gestürmt, um zu sehen, was passiert ist. Mir wurde schwindlig, weil ich es nicht fassen konnte, dass das wirklich passierte. Uns. Live. In diesem Zug. So etwas passiert nur in Filmen, doch niemandem selbst. Meinem großen Sohn habe ich erklärt, dass es einen Unfall gab und wir deshalb warten müssten. Meine beiden Kleinen haben auf dem Boden gespielt.
Ich war so froh, dass wir beim Einsteigen nicht nach hinten gegangen sind, wir hätten alles gesehen. Jedes Detail. Es folgte eine weitere Durchsage, in der sich der Schaffner erneut entschuldigte für die Unannehmlichkeiten, wieder erklärte, dass ein Unfall mit einer menschlichen Person vorgefallen ist und wir nicht weiter fahren könnten bis die Bundespolizei und die Rettungskräfte eingetroffen wären, die Fahrt endete vorerst.
Zuerst habe ich mich geärgert, dass ich kein Handy mithatte, dann bestätigte ich meine innere Weissagung, ich solle nicht in diesen Zug steigen. Zudem kam mir in den Sinn, dass die beiden Kleinen nicht viel zum Frühstück gegessen hatten, so dass ich mir Gedanken darüber machte, wann sie wohl Hunger bekommen würden. Nach einer Viertelstunde war der erste Feuerwehrmann auf der Brücke über uns zu sehen, zwei weitere folgten nach weiteren Minuten.
Wir bekamen vorne nicht viel vom Geschehen mit, wurden allerdings von den Jugendlichen über alles unfreiwillig unterrichtet, sie unterhielten sich lautstark über das Geschehen hinter dem Zug.
So war hinten wahrscheinlich ganz Salzgitter versammelt und sehr viele Rettungskräfte und Polizisten. Und ein Junge, der dort liegt, „und das, glaubt mir Mädels, wollt ihr nicht sehen.“ Es dauerte nicht mehr lange, da lief ziemlich jeder Passagier durch den Zug, der Zugbegleiter lief auch auf und ab und zwei Feuerwehrmänner sowie ein Polizist mit beeindruckender Pistole sprachen mit dem Schaffner, den wir nicht zu Gesicht bekamen.
Eine junge Frau hinter mir war so freundlich und hat mich von ihrem Iphone aus meine Mutter anrufen lassen, um ihr zu sagen, dass ich im Zug festsitze und es später wird. An dieser Stelle ein dickes Dankeschön an Sie!
Fast zwei Stunden vergingen, in denen wir unwissend im Zug saßen und herumliefen. Eine Frau kam von hinten und meinte, wir würden gleich weiterfahren. Das wurde aber umgehend von einem anderen Mann dementiert. Vier Feuerwehrmänner liefen den Gang hinunter und fragten, ob es uns gut ginge. Zwei Sanitäter liefen rechts oben auf der Böschung mit einer Leiter entlang, diese legten sie so auf die Böschung, dass wir hinaufklettern konnten. So stand also fest, wir würden evakuiert und steigen in einen Bus, der uns dann nach Braunschweig zum Bahnhof fahren würde.
Also warteten wir brav, bis wir an der Reihe waren. Mein großer war im Null komma nix oben, meine beiden kleinen haben die Feuerwehrmänner hochgetragen, die vor Angst weinten. Oben angekommen mussten wir ein ganzes Stück auf dem Acker laufen, dann über die Brücke gehen- wo ich gestehen muss, mich umgedreht zu haben, konnte aber nur eine weiße Plane erkennen, auch am Zug waren keine Spuren des Unfalls erkennbar.
Noch eine gute Viertelstunde ging es dann einen Feldweg zum Reisebus und dieser fuhr uns dann zum Bahnhof nach Braunschweig. Meine Mutter wohnt zum Glück direkt gegenüber dem Bahnhof, so dass wir uns schnell ausruhen konnten von dem Vorfall.
Drei Tage später erfuhr ich von der Redakteurin der lokalen Zeitung, dass es sich um einen Selbstmord gehandelt hat. Meine Kinder haben noch ein paar Tage darüber gesprochen, fanden es mehr aufregend als alles andere. Ich dagegen hatte mehrere Wochen damit zu kämpfen, konnte es nicht aus meinem Kopf bekommen und träumte sogar davon.
Mittlerweile kann ich darüber schreiben. Es fiel mir einfach schwer, das zu verarbeiten, weil es mir unmöglich ist zu verstehen, wieso Menschen so etwas machen. Zwei Menschen, der gleiche Zug, unterschiedliche Gedankengänge. Durch seinen Entschluss, sein Leben zu verändern, hat er auch für viele andere Menschen das Leben verändert. Ungewollt.
Egal was ich in Zukunft vorhabe, nie wieder werde ich ohne Vorbereitung irgendwo hinfahren. Denn das Leben lehrt einen etwas besseres.
Geschicht lesen zum Nachdenken von: Waffelbunny